Mein Sohn M. und ich hatten einen tollen Stillstart - alles lief super. Nach sechs Wochen hatte ich jedoch plötzlich starke Schmerzen in den Brustwarzen, wenn er ‚abdockte‘. Eine Stillberaterin meinte im Rahmen einer telefonischen Beratung, dass es so klänge, als handele es sich um einen s.g. ‚Vasospasmus‘. Ich nahm Magnesium und arbeitete parallel mit meinem Sohn an der korrekten Stillposition. Schließlich wurde es nach wenigen Wochen besser und ich dachte nicht wieder daran.
Als unser Sohn 6 Monate alt war, wollten wir mit der Beikost beginnen. Beim ersten Breifüttern würgte er, erbrach alles und weinte. Wir dachten, er müsse sich erst daran gewöhnen, aber auch beim zweiten und dritten Mal wurde es nicht besser. Wir beschlossen also, noch zu warten. Wir setzten ihn aber immer mit an den Tisch und gaben ihm auch gedünstete Stückchen zum Kennenlernen. Er spielte und matschte nur mit dem Essen. Es landete nichts in seinem Mund.
Vielleicht war er noch nicht so weit? Diese gescheiterten Versuche wiederholten sich in den nächsten Monaten immer wieder. Manchmal aß er einmalig ein paar Löffel. Dann dachten wir „Jetzt ist es soweit! Der Knoten ist geplatzt!“ Dann am nächsten Tag lehnte er wieder alles ab. Er drehte sich weg. Oder wenn mal etwas in seinem Mund landete, würgte er meistens. Wir verzweifelten zunehmend. Wir probierten alle Varianten an Essen. Andere Menschen versuchten ihn zu füttern. Manchmal nahm er ein paar Löffel, um dann am nächsten Tag wieder alles abzulehnen.
Freunde und Familie sprachen uns immer wieder darauf an. Gaben - meistens ungefragt - unzählige Ratschläge und Tipps. Von „Du musst einfach nur mal weg fahren, dann bekommt er schon Hunger“ bis zu „vielleicht übt Ihr einfach zu WENIG Druck aus“ war alles dabei. Das setzte uns - neben unseren eigenen Ansprüchen - zusätzlich unter Druck. Hinzu kam die wachsende Sorge, dass M. nicht mit allem Notwendigen versorgt werden würde.
Ich hatte gelesen, dass es auch Babys gibt, die erst mit einem Jahr Interesse am Essen haben. Und auch unsere Hebamme meinte schließlich auch, dass unser Sohn vielleicht einfach ein volles Stillbaby sei. Das nahmen wir dann als mögliche Erklärung hin.
Unser Kinderarzt fragte wegen der Beikost bei den Standarduntersuchungen nach. Bei beiden Gelegenheiten hatte M. sich dann gerade am Vortag etwas füttern lassen. Ich sagte also, er esse nun und dann war das Thema beendet. Da er immer wieder die Versuche einstellte, fragte ich den Arzt bei einer anderen Gelegenheit, ob es organische Ursachen haben könnte, dass M. nicht so richtig esse. Da verwies der Kinderarzt aber darauf, dass das Stillen ja gut klappen würde. Das spräche gegen organische Ursachen. Auch die (nicht auf Kinder spezialisierte) Zahnärztin hatte uns beim ersten Kontrolltermin versichert, dass bei ihm alles normal aussähe im Mund. Das war für uns dann erstmal gesetzt. Es musste also andere Gründe geben. Jedoch blieb immer ein komisches Bauchgefühl. Vor allem, da unser Sohn kaum etwas in den Mund nahm und mit der Zunge erkundete. Dazu meinte der Kinderarzt jedoch, dass das völlig in Ordnung sei. Er erkunde einfach mehr mit den Augen.
Als M. ein Jahr alt war, stand wieder eine Untersuchung an. Mein Partner war mit unserem Sohn dort. Die Schwester wog M. zweifach, weil sie meinte, das Ergebnis könne nicht stimmen. Der Arzt meinte dann auch – wenig hilfreich und einfühlsam – M. sei viel zu dünn und könnte so nicht gedeihen. Wir müssten nun endlich mal mit der Beikost starten. Mein Partner erklärte ihm, dass wir genau das seit einem halben Jahr probieren würden und bisher nichts funktioniere. Der Kinderarzt meinte, wir müssten dann wohl daran arbeiten, wie wir ihn füttern – andere mögliche Ursachen schloss er abermals aus. Wir sollten uns verhaltenstherapeutische Hilfe suchen. M. bräuchte nur die richtigen erzieherische Maßnahmen, dann würde es schon klappen.
Das war für uns wie ein Schlag ins Gesicht. Hatten wir seine Wohlergehen gefährdet? Und waren wir selbst das Problem? Da traf er einen wunden Punkt. Die Tatsache, dass sich M. teils von unserem Besuch ein paar Löffel Brei andrehen ließ, hatte uns auch schon dazu gebracht, zu überlegen, ob wir selbst der mögliche Grund für seine Ablehnung sein könnten.
In dieser Unsicherheit kam jedoch auch immer wieder das Gefühl hoch, dass M. einfach nicht richtig essen könne. Daher beschlossen wir, nun nochmal alles abzuklären, was möglich ist. Eine Freundin empfahl einen Besuch bei der Osteopathie – zumal M. als Sternengucker auf die Welt kam. Dort gab es keinen Befund.
Ich hatte seit mehreren Monaten die Visitenkarte einer anderen Still- und Beikostberaterin in der Schublade. Wir machten einen Termin bei ihr und sie sagte uns, dass wir vor einem Beratungstermin ein Blutbild machen lassen sollten. Oftmals sei ein Eisenmangel der Grund für Appetitlosigkeit.
Der Kinderarzt stand dem überaus skeptisch gegenüber, aber nahm auf unser Drängen hin Blut ab. Dabei unterließ er es nicht, uns deutlich zu vermitteln, dass er es nicht korrekt fände, dass M. nun darunter leiden müsse, dass wir die Schuld für das Nicht-Essen bei ihm suchen und ihn dieser Qual aussetzen. Die Ergebnisse beurteilte er als „absolut in Ordnung“. Er sah in den Werten keinen Eisenmangel.
Die Ergebnisse nahmen wir mit zur Beraterin. Sie erklärte uns, dass ein verdeckter Eisenmangel vorliegen könne. Die dafür nötigen Parameter hatte der Kinderarzt nicht mit erheben lassen. Wir hatten nun die Möglichkeit aufgrund der restlichen, verdächtigen Werte trotzdem ein Eisenpräparat zu verabreichen . Nachdem wir ihr alles andere geschildert hatten und sie M. angeschaut hatte, stand sehr schnell der Verdacht eines zu kurzen Zungenbändchens im Raum. Sie schaute M. kurz in den Mund und da sahen wir es alle. Seine Zunge saß stramm am Mundboden fest und er konnte sie kaum über die Lippen hinaus schieben. Wir waren völlig baff. Ich hatte davon gelesen, jedoch gedacht, dass das standardmäßig untersucht worden wäre. Die Beraterin klärte uns darüber auf, dass das nicht der Fall sei und das Thema bei Kinderärzten nicht allzu viel Beachtung finden würde.
Wir fühlten nun ganz viel gleichzeitig. Wut auf den Arzt, dass er uns so verunsichert hatte, Trauer, dass M. das alles ertragen hatte müssen, Angst wegen der bevorstehenden OP und Scham, dass uns das nicht selbst aufgefallen war. Und dann vor allem Erleichterung. Erleichterung, weil wir nun endlich eine Erklärung hatten. Und etwas tun konnten. Handlungsfähig waren.
Ich fuhr mit M. nochmal zum Kinderarzt, um das Eisenrezept zu holen. Er schaute auch nochmal in seinen Mund und erklärte, dass das Band tatsächlich zu kurz sei, dass das aber auf keinen Fall der Grund für das Nicht-Essen sein könne. Das war das letzte I-Tüpfelchen. Wir wechselten dann endlich zu einer neuen Kinderärztin.
Die Beraterin besprach mit uns, dass wir mit Zungenübungen beginnen und Eisen geben sollten, bis dann etwas später die Trennung erfolgen würde. Das taten wir und es war sogleich eine Veränderung spürbar. M. war durch das Eisen wacher und kraftvoller. Er probierte motorisch neue Sachen und erstmals beugte er sich beim Essen aktiv vor, um etwas vom Finger zu schlecken. Die Beraterin hatte uns gesagt, dass es egal sei, was wir ihm geben. Die Hauptsache sei, er esse erstmal IRGENDETWAS. Wir nahmen erstmal süßen Pudding. Den aß er tatsächlich mehrere Tage hintereinander. Er wirkte nun sehr hungrig. Wir probierten also einen dickeren Brei mit Gemüse. Und da war es wieder- er drehte sich würgend weg und verweigerte wieder alles. Wir waren abermals sehr verunsichert. War da doch noch was anderes? Oder hatten wir zu schnell zu viel gewollt?
Die Beraterin hatte uns dazu geraten, zusätzlich eine Logopädin mit ins Boot zu holen. Wir machten einen Termin bei Frau G. und diese erklärte uns dann, dass M.s Zungenband ein Sonderfall sei. Es sei so stramm und weit vorne an der Zungenspitze angewachsen, dass er partout keinen dickeren Brei essen KÖNNE, außer man setze diesen genau mittig, hinten auf der Zunge ab. Nun verstanden wir auch, warum er oftmals dann doch wieder gewürgt und abgelehnt hatte. Und warum es manchmal geklappt hatte. Wir übten also mit wässrigem Pudding und einem speziellen Löffel und nun klappte es wunderbar.
Dann kam der Tag der OP. Der Eingriff war minimal, nach dem Auftragen eines lokal wirkenden Schmerzgels war in wenigen Sekunden das Band vollständig getrennt und M. ganz schnell wieder beruhigt. Und seitdem tasten wir uns nach und nach immer weiter vor. Bereits am nächsten Tag hat er dickeren Brei probiert und tatsächlich gegessen. Er kann seine Zunge frei bewegen. Raus strecken. Nun nimmt er auch immer mehr Dinge in den Mund und erkundet sie. Es ist ein Fest, das mitzuerleben. Er spricht neue Silben und Wörter. Es ist wie ein Befreiungsschlag gewesen. Für ihn und auch für uns. Nach 15 Monaten „voll stillen“ nun auch mal Brei füttern zu können – das ist eine riesen Erleichterung und wir blicken nun positiv in die Zukunft und auch auf einen nun möglichen Kitabesuch.